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Fifty Shades of Grey: Auf Spurensuche [Kolumne]

Sexspielzeuge auf Bestseller-Tischen in ganz normalen Buchhandlungen, offene Gespräche über einstige Tabu-Themen wie BDSM – der Erfolg der gerade verfilmten Fifty-Shades-of-Grey-Trilogie hat gesellschaftliche Auswirkungen weit über die Buchbranche hinaus. Indie-Autoren Poppy J. Anderson begibt sich in ihrer Kolumne auf Spurensuche.

Was haben eine innere Göttin mit dem Hang zu ausgedehnten Tanzstunden, eine zerkaute Unterlippe sowie Kabelbinder und ein Spielzimmer gemeinsam? Nein, ich rede nicht über einen Besuch bei Ikea, obwohl die Kabelbinder und das Spielzimmer dies vermuten lassen könnten. Wer spätestens bei der zerkauten Unterlippe nicht auf Shades of Grey gekommen ist, dürfte von dem aktuellen Hype um die Verfilmung des Bestsellers noch nichts mitbekommen haben, was bei der stetig wachsenden Präsens im Netz, in den Medien und im Einzelhandel an ein Wunder grenzen würde.

Gelesen um mitreden zu können

Natürlich werden die einen oder anderen nun genervt mit den Augen rollen und sich fragen, warum sie nicht einmal hier von diesem Thema verschont bleiben. Einerseits kann ich dies sogar verstehen, doch andererseits ist es unglaublich faszinierend, wie eine dreibändige Buchreihe in kürzester Zeit zu einem derartig gigantischen Erfolg avancieren konnte und gleichzeitig die Menschen zu spalten vermag. Von den einhundert Millionen Leser(innen) weltweit scheint mindestens die Hälfte das Buch beziehungsweise die Bücher nur gelesen zu haben, um mitreden zu können. Aus Interesse allein haben es scheinbar die wenigsten gelesen. Ähnlich wie bei Charlotte Roches Roman Feuchtgebiete, der 2008 zum Bestseller des Jahres gekürt wurde, will es kaum jemand aufgrund des Themas oder aus Neugierde gelesen haben, sondern lediglich der Brisanz oder des Skandals wegen.

Aha!

Im Ruhrpott würde man sagen: Ja, ne. Is klar.

Erotik entflieht der Schmuddelecke

Während also die eine Hälfte die Lektüre des internationalen Bestsellers aus der Feder von E.L. James damit begründet, gesellschaftskritisch über BDSM diskutieren zu können, steht die andere Hälfte freimütig dazu, die Geschichte über den unwiderstehlichen Milliardär und die schüchterne Studentin, die sich auf ein erotisches Abenteuer samt Popoklatsche einlässt, gelesen zu haben. Meistens geht diese Hälfte sehr offen mit ihrer Vorliebe für den als Mommy porn verschrienen Roman um und schwärmt regelrecht von den Qualitäten des Protagonisten Christian Grey. Als Anhänger seiner Geschichte nennen sich einige sogar Shadies, gründen in sozialen Netzwerken Gruppen, in denen sie über ähnlich erotische Geschichten diskutieren können, und verstecken ihre Lieblingsbücher nicht länger in selbst genähten Buchumschlägen, damit der Sitznachbar im Bus nicht sehen kann, was sie gerade lesen. Die Lektüre von Erotikromanen ist plötzlich kein Grund mehr, sich zu schämen. Erotik hat sich etabliert.

Handschellen in Buchhandlungen

Sexspielzeuge auf Bestseller-Tischen

Sexspielzeuge auf Bestseller-Tischen

Dank E.L. James und ihrer Trilogie wurden Themen wie BDSM, Fetisch, Dominanz und Devotismus in der Öffentlichkeit salonfähig. Mochte es vorher undenkbar gewesen sein, findet man heute in stinknormalen Buchhandlungen gleich neben den Taschenbuchausgaben der Shades of Grey-Romanreihe hübsch verpackte Handschellen oder Lederpaddles, die ebenfalls zum Verkauf angeboten werden. Und das nicht etwa in irgendeiner Erwachsenenabteilung, sondern auf dem Tisch der Bestseller – dem Tisch, nach dem sich ein jeder Autor die Finger lecken würde. Gleich neben Harry Potter und keinen scheint es zu stören.

Vergleichbar ist dies vielleicht mit dem Hype um die einstige Erfolgsserie Sex & the City, die es ebenfalls vermochte, einen offeneren Umgang mit Sexualität in der Gesellschaft zu forcieren. Was vorher als Tabubruch erachtet worden war – beispielsweise Gespräche über Sexpraktiken in aller Öffentlichkeit –, gehörte bald schon zur Normalität. Das alt bekannte Motto Sex sells hat weder an Wahrheit eingebüßt noch ist es aus der Mode gekommen.

Völlig überraschender Erfolg

Der Unterschied zwischen Shades of Grey und Sex & the City ist jedoch eindeutig. Die Fernsehsendung besaß von Anfang an die Möglichkeit, zu einem Hit zu werden, wurde sie schließlich von einer gigantischen Produktionsfirma zum Leben erweckt und in der Prime-Time ausgestrahlt. Das Potenzial, die Geschichte rund um Carrie Bradshaw zu einem Quotenliebling zu machen, war absolut ersichtlich, immerhin wurde die Serie gepusht, was das Zeug hielt. Die Buchreihe der britischen Autorin E.L. James dagegen entstammt ursprünglich einer Fan-Fiction und wurde anfangs unentgeltlich auf einer Homepage hochgeladen. Die Veröffentlichung durch einen winzigen Independent-Verlag, der weder über ein nennenswertes Marketingbudget noch über andere hochtrabende Möglichkeiten verfügte, war ebenfalls alles andere als ein Garant für einen internationalen Erfolg, wie er kurze Zeit später eingetroffen ist. Wie also war dies möglich?

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Man kann nur vermuten, dass E.L. James zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, schließlich gab es bereits vor Shades of Grey ganz ähnliche Bücher. Doch keines wurde derart erfolgreich oder heiß diskutiert wie der Roman um den Selfmade-Milliardär und die naive Studentin. Heute gibt es bei den meisten Neuveröffentlichungen aus dem gleichen Genre sofort Stimmen, die den Vorwurf äußern, dass es sich um ein Remake oder um einen Abklatsch von SOG handele, weil der Protagonist über Geld verfügt, weil die Protagonistin Studentin ist oder weil das Buch mit ausgefallenen Liebesszenen agiert. Der Verdacht scheint jedes Mal nahe zu liegen, dass jemand auf einen Zug aufspringen will, um ein eigenes Stück vom Kuchen abzugreifen. Dass dieses Genre nicht E.L. James’ Erfindung ist, mag noch nicht zu jedem durchgedrungen sein.

Was sie jedoch absolut perfektioniert hat, ist, die Sehnsucht nach wahrer Liebe mit ausgefallenen Sexpraktiken und knisternder Erotik zu paaren und den Begriff Mommy porn zu prägen. Nichtsdestotrotz muss man das Buch weder gut geschrieben noch literarisch wertvoll finden, sollte jedoch anerkennen, dass der Autorin geradezu aus dem Nichts ein bemerkenswerter Erfolg geglückt ist, selbst wenn die Hälfte ihrer Leser(innen) das Buch lediglich gelesen hat, um mitreden zu können.

B_000006Über die Autorin: Poppy J. Anderson (Homepage, Wikipedia, Amazon) ist das Pseudonym einer deutschen Autorin, die seit Ende 2012 als Selfpublisherin Romane veröffentlicht, welche mittlerweile auch über Rowohlt verlegt werden. Die meisten ihrer Bücher schafften es auf Platz 1 der Bestsellerliste und haben sich insgesamt über 800.000 Mal verkauft.

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