Nur noch zwanzig Meter, zwanzig kleine Meter bis zum Briefkasten, sie hatte es sich leichter vorgestellt. Blödsinn, sagte sie sich, es gibt keine kleinen oder großen Meter. Meter ist Meter, Punkt, aus. Seltsam, dass man an der Schwelle des Todes, an diesem unvergleichlichen Ort, noch immer über solche Belanglosigkeiten nachsinnt, während man doch eher annehmen würde, dass man irgendeinen bedeutenden Satz spricht, der sich mit glühendem Eisen in die Annalen der menschlichen Weisheit einbrennen wird. Einen Satz, der später einmal hier und da kolportiert werden wird: »Wissen Sie, was Alice Gauthiers letzte Worte waren?«
Wenn sie auch nichts Denkwürdiges zu erklären hatte, so trug sie doch eine schwerwiegende Botschaft in der Hand, die sich in die Annalen der menschlichen Schande einbrennen würde, welche ja sehr viel umfangreicher waren als die der Weisheit. Sie sah auf den Brief, der in ihrer Hand zitterte.
Also weiter, noch sechzehn kleine Meter. Noémie beobachtete sie von der Haustür aus, bereit, beim geringsten Schwanken hinter ihr herzustürzen. Noémie hatte alles versucht, ihre Patientin davon abzuhalten, dass sie sich allein auf die Straße wagte, aber Alice Gauthiers gebieterisches Wesen duldete keinen Widerspruch.
»Damit Sie mir über die Schulter schauen, um die Adresse zu lesen?«
Noémie war beleidigt, so etwas tat sie nicht.
»Das machen alle, Noémie. Einer meiner Freunde – ein alter Gauner im Übrigen – sagte immer zu mir: ›Wenn du ein Geheimnis wahren willst, dann wahre es.‹ Und so habe ich eins über lange Zeit gewahrt, nur in den Himmel komme ich damit nicht. Wobei mir der Himmel auch sonst nicht sicher wäre. Verkrümeln Sie sich, Noémie, und lassen Sie mich gehen.«
Aus Das barmherzige Fallbeil