Cincinnati, Ohio
Dienstag, 4. August, 2.45 Uhr
Wo bleibt er denn? Er hat doch versprochen zu kommen.
Tala rang die aufsteigende Panik nieder und blickte sich verstohlen um. Weit und breit nur Leute aus dieser Gegend, die ihren Geschäften nachgingen. Geschäfte, die zu dieser Nachtzeit wohl kaum legal waren.
Niemand achtete auf sie. Niemand war ihr gefolgt. Zumindest hoffte sie das.
Gib ihm noch eine Minute. Nur noch eine. Angstvoll zog sie sich in den Schatten zurück. Sie musste zurückkehren, ehe jemandem auffiel, dass sie sich davongestohlen hatte.
Denn wenn man sie erwischte … wäre alles aus. Sie hatte nicht nur ihr, sondern auch das Leben ihrer Familie aufs Spiel gesetzt. Dennoch war sie das Risiko eingegangen. Das Baby war es wert.
Für das Baby hätte sie alles getan. Dieses winzige, fröhlich krähende Lebewesen konnte noch nicht wissen, wie schlecht die Welt war. Tala hätte ihre Seele verkauft, um es vor der Hölle zu bewahren, in der sie lebte, seit sie vierzehn Jahre alt war.
Das lag nun drei Jahre zurück. Drei Jahre, in denen sie ein halbes Leben gealtert war. Drei Jahre, die den Augen ihrer Mutter das Leuchten genommen und ihren einst so stolzen Vater in einen Schatten seiner selbst verwandelt hatten. Die Furcht um ihre Kinder hatte die Eltern gelähmt: Sie konnten nichts tun. Das war Tala bewusst. Aber ihr war auch bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte. Also hatte sie sich in Geduld gefasst und auf den richtigen Augenblick gewartet.
Und nun war er da. Einen besseren Augenblick würde es nicht geben.
Aus Dornenkleid