5 historische E-Reading-Irrtümer
Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen. Wie viel an dieser Volksweisheit dran ist (die diversen Literaten zugeschrieben wird), illustriert auch in Blick in den E-Reading-Kosmos. So müsste der Artikel älteren Vorhersagen zufolge wahlweise entweder auf eBook Readern oder Tablets gelesen werden, er müsste multimedial angereichert sein – und er müsste Geld kosten.
1. Bald hat jeder einen eBook Reader
eBook Reader galten einmal als neuer Wachstumsmarkt der globalen CE-Branche. Im Jahr 2010 hatte jeder Elektronikhersteller, der etwas auf sich hielt, ein dediziertes Lesegerät im Programm – von Acer über ASUS bis hin zu Samsung, die ihren Handelspartnern sogar gleich eine ganze Produktfamilie präsentierten. Die meisten dieser Geräte kamen im Endeffekt nie in den Handel oder zumindest nicht nach Deutschland, Nachfolgemodelle blieben aus.
Grund für die Betriebsamkeit in den Entwicklungsabeteilungen waren die Verkaufserfolge von Amazon und Sony, mehr aber noch die äußerst vielversprechenden Prognosen. Waren im Jahr 2009 weltweit geschätzte 3,8 Millionen dedizierte Lesegeräte verkauft worden, gingen Analysten noch im Sommer 2010 – ein halbes Jahr nach Verkaufsstart des iPad – von 35 Millionen verkauften Einheiten im Jahr 2014 aus. In der Vor-iPad-Ära lagen die Schätzungen sogar noch deutlich höher.
2. Bald hat niemand mehr einen eBook Reader (aber dafür jeder ein Tablet)
Zweieinhalb Jahre später waren die Prognosen drastisch nach unten korrigiert: Der Dienstleister iSupply prognostizierte Anfang 2013 nur noch weltweit 8,7 Millionen verkaufte Lesegeräten im Jahr 2014, Tendenz weiterhin fallend. eBook Reader, so die Prognose, werden innerhalb kurzer Zeit komplett von der Geräteklasse Tablet verdrängt. Ein Analystenhaus verstieg sich sogar zu der These, eBook Reader wären bald am Ende, weil ihre Zielgruppe ausstirbt.
Der riesige Erfolg des Anfang 2010 eingeführten iPad ließ nicht nur Verlage von einer einfacheren Monetarisierung ihrer Web-Inhalte und dem Verkauf multimedialer eBooks träumen (siehe unten). Er zog auch etliche Nachahmer-Produkte anderer Hersteller nach sich.
Auch hier ließen Analysten-Prognosen nicht lange auf sich warten. So sagte Gartner im Herbst 2011 insgesamt 326 Millionen verkaufte Tablets im Jahr 2015 hervor, darunter 148 Millionen iPads.
Und auch hier könnte die Realität nicht unterschiedlicher sein: Der weltweite Tablet-Markt stagniert, viele Hersteller haben sogar mit rückläufigen Absatzzahlen zu kämpfen oder ziehen sich – wie Kobo und Barnes & Noble – komplett aus dem Markt zurück. Eine aktuelle IDC-Prognose geht von "nur" 60 Millionen verkauften iOS-Geräten (iPad Air, iPad Mini und und iPhone 6 Plus kombiniert) in diesem Jahr aus, also weniger als halb soviel wie vor drei Jahren geschätzt. Fürs digitale Lesen wird nach wie vor (und immer häufiger) zum dedizierten Lesegerät gegriffen. Tablets eher von "Mischnutzern" auch zum gelegentlichen Lesen verwendet.
3. Digital-Nutzer wollen Anreicherungen, Farbe und Interaktion
Auch Verlage wollten am vermeintlichen Tablet-Boom mitverdienen – mit multimedial oder sozial (Buchfrage) angereicherten eBooks. Den hohen Entwicklungskosten machten sich aber (fast) nie bezahlt, viele Verlage beließen es bei Pilotprojekten.
Ein anderes Dauerthema auf lesen.net sind dedizierte eBook Reader mit Farb-Displays. Dass trotzdem alle aktuellen Lesegeräte Schwarzweiß-Displays haben, liegt zum einen an der kostspieligen Produktion von farbigen E-Ink-Panels. Zum anderen aber stellte sich heraus, das Digital-Leser mit Lesegeräten tatsächlich auch nur digital lesen wollen (und nicht etwa Mini-Spielchen, wie sie der gefloppte App-Marktplatz Kindle Active Content offerierte). Wer sich heutzutage trotz vielfältigerer nutzbarer Smartphones und Tablets noch ein Lesegerät zulegt, wünscht sich die bestmögliche Anzeigequalität von Text – und die offerieren nun einmal klar die E-Ink-Carta-Graustufenpanels.
4. Die Leute wollen kurze Texte
Mit seinen Kindle Singles wollte E-Reading-Primus Amazon Anfang 2011 den Verkauf von Kurz-Texten zum Geschäftsmodell machen. Vor allem Indie-Autoren und Digital-Verlage ließen sich das nicht zweimal sagen und produzierten fleißig entsprechende Inhalte, Verlage versuchten sich primär an E-Serials.
Vier Jahre später gibt es immer noch Kindle Singles, Bestseller aus dieser Kategorie sind aber die absolute Ausnahme. Auch beim seriellen Format gab es bislang weitgehende Ernüchterung: Roman-Serien und teilweise auch "native" Serials funktionieren, die bloße Zerstückelung eines Werkes in mehrere mundgerechte Teile hingegen nicht. Selbst im eigentlich körperlosen digitalen Raum haben Leser offenbar sehr genaue Vorstellungen davon, wie lang eine Lektüre für sie sein sollte.
Auch auf einzelnen Artikel und "Long-Reads" blieb Amazon sitzen. Die Geschichte von Kindle Publishing for Blogs beschrieben wir voriges Jahr wie folgt.
Das Thema “Monetarisierung von Online-Inhalten” ist so alt wie das Internet, in den letzten Jahren gewannen Paid-Content-Modelle an Auftrieb. Als Plattform-Betreiber wollte auch Amazon da nicht am Seitenrand stehen und führte 2009 Kindle Publishing for Blogs ein. Kostenlos oder gegen eine monatliche Subskriptionsgebühr kommen Beiträge abonnierter Blogs auf die Amazon-Lesegeräte, 30 Prozent der Abo-Erlöse schüttet Amazon auf. Das Programm gibt es noch (hier die Bestseller in den USA), wurde aber nie internationalisiert und über Blogs hinaus erweitert, was Amazon im Erfolgsfall definitiv getan hätte.
5. Die Leute kaufen eBooks beim Verlag/beim Autoren
Die Hoffnungen, dass eBooks das für Verlage wie Autoren besonders lukrative Direktgeschäft ankurbeln könnte, erfüllten sich nicht – zumindest nicht im Publikumsbereich. Verlage wie Bastei Lübbe stampften ihre Online Shops komplett ein und verweisen auf Kooperationspartner. In den letzten Jahren wurde immer mehr offensichtlich, wie wichtig Lesenden der Nutzungskomfort ist. Im geschlossenen Amazon-Ökosystem kommen eBooks mit einem Klick aufs eigene Lesegerät, da nimmt man gemeinhin auch eine schlechtere Ausstattung (Kopierschutz) gegenüber dem "freien" Erwerb in Kauf beziehungsweise ist sich selbiger meist überhaupt nicht bewusst.
Kommentare
Sonntagsfrage: Preis pro Seite » lesen.net 8. November 2015 um 18:24
[…] wie den Kindle Singles bis zu Verlagsprojekten (Hanserbox, Knaur eSerials, …). Deren bescheidener Erfolg deutet gleichwohl ebenso wie die Download-Zahlen bei unseren eBook Tipps darauf hin: […]