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#FreeDeniz: 15-seitige Erdogan-Biographie knackt Kindle Top 10

Das Schicksal des in der Türkei inhaftierten "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel sorgt gegenwärtig nicht nur für diplomatische Verwerfungen und Protestkundgebungen in ganz Deutschland, sondern wirbelt auch die eBook Charts durcheinander. Ein kurzer Aufsatz von Yücel, ursprünglich im Dezember in einer wenig beachteten Kulturzeitschrift publiziert, verkaufte sich innerhalb weniger Stunden hundertfach und verhalf dem Titel zu Bestseller-Status.

In der 1965 von Hans Magnus Enzensberger und Karl Markus Michel ins Leben gerufenen Kursbuch-Reihe erscheinen Debattenbeiträge aus Politik und Soziologie mit gewöhnlich eher überschaubarer Zielgruppe. Nach Stationen bei Suhrkamp und Rowohlt und zwischenzeitlich mehrjähriger Pause werden die Kursbücher derzeit vom Hamburger Kleinverlag Murmann herausgegeben.

Ursprünglich Debattenbeitrag in wenig beachteter Reihe

Das im Dezember 2016 erschienene aktuelle Kursbuch Nummer 188 trägt den Titel Kalter Frieden. Auf 176 Seiten gibt es zehn Aufsätze zum Thema mit Titeln wie "Der entgrenzte Suizid. Narzisstische Kränkung im kalten Frieden". Das Heft – Kostenpunkt: 19 Euro gedruckt, 16 Euro digital – hätte wie die meisten vorigen Kursbücher wohl nur wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wenn es nicht auch einen Beitrag des "Welt"-Korrespondenten Denis Yücel enthalten hätte.

Auf rund 15 Seiten führt Yücel auf, die die türkische Partei AKP um Recep Tyyip Erdogan in den anderthalb Jahrzehnten das Land erst für sich gewannen und dann schleichend veränderten. Der Text "Und morgen die ganze Türkei" (gekürzt bei faz.net) dürfte einer der Gründe dafür sein, warum Yücel sich seit Mitte Februar in Polizeigewahrsam befindet. Offiziell wird dem 43-jährigen Deutschtürken "Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Aufwiegelung der Bevölkerung" vorgeworfen. An diesem Montag verhängte der zuständige Haftrichter nun Untersuchungshaft, die in der Türkei bis zu fünf Jahre dauern kann – ohne jeglichen Prozess.

Hundertfacher Aufruf zum eBook-Kauf

Das Urteil hatte in Deutschland einen diplomatischen und medialen, aber auch gesellschaftlichen Aufschrei zu Folge. Eine Folge davon: Über das Social Web wurde in den letzten Stunden tausendfach zum Kauf des Yücel-Textes als eBook aufgerufen. Allein der folgende Tweet wurde bislang mehr als 700x geteilt – unter anderem von Jan Böhmermann, der ja auch eine gemeinsame Vergangenheit mit Erdogan hat.

Allein Böhmermann folgen bei Twitter mehr als 1,3 Millionen Menschen. Die enorme Reichweite des Aufrufs verbunden mit dem geringen Verkaufspreis des einzelnen Yücel-Textes – 1,49 Euro – sorgten für einen enormen Ranking-Sprung des eBooks bei den großen Online-Händlern. Auf Amazon.de steht der Text aktuell auf Platz 10 der Kindle Charts, inmitten der dort typischerweise zu findenden leichten Belletristik und meilenweit vor vergleichbaren (Sach-)Texten, für die selbst eine Top 1.000 Platzierung schon ein Erfolg ist.

Zur Orientierung: Für Platz 10 der Kindle Charts muss sich der Text in den letzten 24 Stunden mindestens etwa 500x verkauft haben. Absolut betrachtet eine stolze Zahl, die sich beim Blick auf den Verkaufspreis und auf die Publikationsart (Verlag) aber relativiert. Bei 500 Verkäufen stehen unter dem Strich Netto-Erlöse von 625 Euro, von denen um 50 Prozent an Amazon gehen (je nachdem, was für eine Vereinbarung der Verlag mit dem Online-Händler hat) und etwa 40 Prozent an den Verlag. Bleiben 62,50 Euro für den Autor pro Tag, an dem sich der Text in dieser Ranking-Region bewegt.

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Überschaubare Finanzspritze aber wichtiges Signal

Selbst wenn man an ein paar Zahlenräder dreht und Amazon analog zur Ein-Buch-für-Kai-Aktion auf seinen Erlös verzichten sollte (was hier wohl kaum passieren wird, wäre das doch eine eindeutige politische Positionierung), stehen unter dem Strich keine großen Summen. Ohnehin dürfte Deniz Yücel derzeit eher andere Sorgen haben als seine Position in den Kindle Charts.

Wichtiger ist da schon das Signal, dass sich die Anteilnahme am Schicksal des Journalisten nicht in Likes und Hupen bei Autokorsos erschöpft. Vielmehr wird hundertfach Geld in die Hand genommen, um Yücel zu unterstützen und auch um sich – durch die Brille des Autoren – ein eigenes Bild von der Situation in der Türkei zu machen.

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