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"Katastrophe für Literaturlandschaft": Schriller Aufschrei wegen neuer Amazon-Vergütung

Vor fast einem Monat kündigte Amazon eine Änderung des Vergütungssystem bei seinen eBook Flatrates Kindle Unlimited sowie der Leihbücherei an. Indie-Autoren werden dort seit dem 01. Juli nicht mehr pro Leihe, sondern pro tatsächlich gelesener Seite bezahlt. Dagegen formiert sich derzeit immer lauterer und schrillerer Widerstand, den Amazon sehr ernst nehmen sollte.

Mit der Umstellung der Vergütungsart reagierte Amazon auf eine Schwachstelle im System. Weil die Leihe eines eBooks mit 50 Seiten genauso viel einbrachte wie die eines eBooks mit 300 Seiten – und die Vergütung mit rund 1,20 Euro pro Leihe für niedrigpreisige Titel häufig attraktiver war als Verkäufe -, wurden immer mehr Romane aufgesplittet oder gleich dediziert für die eBook Flatrate geschrieben. Autoren konnten so doppelt kassieren, Verfasser längerer Texte und letztlich auch nicht-leihende Kunden waren im Nachteil.

Der Wechsel von "pro Leihe" zu "pro Seite" bedeutet also für Indie-Autoren mehr Gerechtigkeit und wird von den direkt Betroffenen tatsächlich auch mehrheitlich begrüßt (wir berichteten). Auch in unserem Forum stieß die Maßnahme auf ein größtenteils positives Echo.

In breiter berichtenden Medien erzeugte die Ankündigung von Amazon vor drei Wochen anfänglich nur wenig Wellen. Hierzulande berichteten vor allem Tech-Medien wie heise und golem. Das Deutschlandradio Kultur holte sich zur Einordnung einen Berliner Professor für Texttheorie vors Mikrofon, der die Änderung klar begrüßte, gerade aus Autorensicht. So weit, so unspektakulär.

Verdi beschwört Big-Brother-Ängste

Der Ton änderte sich, als an diesem Montag der Verband der deutschen Schriftsteller (VS) die Umstellung mittels Pressemitteilung ("Amazon bedroht Gedankenfreiheit") kommentierte und von einer  "Katastrophe für die Literaturlandschaft" sprach. Der VS ist die mitgliederstärkste hiesige Autoren-Vereinigung und gehört zur Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die sich mit Amazon bekanntlich an zahlreichen Fronten bekriegt.

Der VS kritisiert zum einen grundsätzlich, "dass Amazon das Leseverhalten seiner Kunden wie 'big brother' verfolgt", was "ein kontrollierender Eingriff in den intimen Dialog des Lesers mit dem Buch und das damit verbundene Verhältnis zum Autor" sei. Zum anderen werde Einfluss auf den Schreibprozess des Autoren genommen, der darauf achten müsse, den Leser "kontinuierlich im 'Cliffhängerstil' von einer Seite zur nächsten zu treiben".

Mit drei Wochen Abstand schwappte die Vergütungsumstellung infolge der Pressemitteilung in den letzten Tagen dann doch noch in die großen Medien und deren Online-Ausgaben. So publizierte etwa das Handelsblatt eine entsprechende dpa-Meldung, auch die Tagesschau berichtete. Zu den oben genannten unmittelbaren Gründen für die Maßnahme gibt es in diesen Artikeln natürlich keinerlei Verweis.

Matthias Matting wies in seiner Self Publisher Bibel schon infolge der ersten Berichte darauf hin, a) wie wenig Autoren tatsächlich betroffen sind b) dass auch die meisten Autoren die Umstellung von Amazon begrüßen. Spätestens seitdem sich Verdi eingeschaltet hat, geht es in der Debatte aber um mehr.

Dazu genügt schon ein Blick in die Kommentarspalte von Tagesschau.de. Fast durch die Bank empören sich Nutzer über die Big-Brother-Überwachung ihres Leseverhalten durch Amazon beziehungsweise können nicht nachvollziehen, wie sich Leser so etwas gefallen lassen.

Schizophrene Leser

Die vielstimmige Kritik erinnert an die 1984-Affäre vor inzwischen 6 Jahren, als Amazon ein unrechtmäßig über den Kindle Store verkauftes eBook – ausgerechnet Orwells Dystopie – nachträglich von Lesegeräten fernlöschte.  Schon in diesem Zusammenhang wurde die Allmacht von Amazon kritisiert – auch vielen Kindle-Lesern wurde hier erstmalig bewusst, dass sie ein bei Amazon gekauftes eBook nicht tatsächlich besitzen, sondern nur eine eng beschränkte Nutzungslizenz erworben haben. Besonders laut war und ist solche Kritik seit jeher in Deutschland, dem einzigen Land der Welt, wo Google-Street-View-Straßenzüge verpixelt sind.

Auch Tolino weiß, was gelesen wird

Auch Tolino weiß, was wie viel gelesen wird

Der Protest darüber, wie genau Amazon über das Leseverhalten seiner Kunden informiert ist, entbehrt nicht einer gewissen Schizophrenie. Die Kindle-Plattform konnte sich trotz ihres vergleichsweise späten Starts ja vor allem deshalb innerhalb kurzer Zeit zum Marktführer entwickeln, weil nirgendwo der Kauf und die Synchronisation von eBooks nebst zuletzt Notizen und zuletzt gelesener Seite über mehrere Geräte hinweg so komfortabel ist. Ohne entsprechende Aufzeichnungen des Leseverhalten ist das unmöglich, natürlich ebenso wie bei den Tolino-Geräten der großen deutschen Buchhändler.

Wenn in Berichten überhaupt Bezug darauf genommen wird, die Vergütungsumstellung beziehe sich nur auf die eBook Flatrates von Amazon, ist zumindest noch ein Wort wie "vorerst" oder "zunächst" eingefügt. Warum Amazon das überhaupt machen sollte, wird freilich nirgendwo ausgeführt. Der Online-Händler hat schlicht keinen wirtschaftlichen Grund, Autoren und Verlage nach tatsächlich gelesenen Seiten zu bezahlen.

Black Box Amazon

Wahrscheinlich ist hingegen, dass sich Amazon schon heute das Leseverhalten sehr genau anschaut und daraus seine Schlüsse zieht. Detaillierte Aufschlüsselungen etwa dazu, an welchen Stellen Leser eine Lektüre abbrechen, können Amazon helfen, im Rahmen seiner eigenen Verlagsaktivitäten erwartungskonformere eBooks zu produzieren.

Abseits davon sollte Amazon die Sorgen vieler (auch Digital-)Leser vor einer Total-Überwachung ihres Leseverhalten ernst zu nehmen. So wie der Online-Händler auf die Kritik an Arbeitsbedingungen und Vergütungen in seinen Versandzentren mit einem Logistikblog reagiert hat, sollte auch das Thema Datenschutz viel offensiver angesprochen werden.

<Bildnachweis: Privacyvon Shutterstock>

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Kommentare


NEWS! Umstellung von Amazon-Vergütung empört Leserschaft | OnleiheVerbundHessen 25. Juli 2015 um 17:04

[…] Eine neue Vergütung wirbelt die Amazon-Leserschaft auf: Indie-Autoren werden nun nicht mehr wie gehabt “pro Leihe” sondern “pro gelesener Seite” bezahlt. Nun steht erneut die Überwachung des Leseverhaltens seitens Amazon schwer in der Kritik. Welche Gründe und Folgen die Umstellung der Amazon-Vergütung haben, erfahren Sie hier. […]

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