"Pestgeschwür": 10 literarische Klassiker, die nicht von Anfang an beliebt waren
Literatur polarisiert. Heutzutage hört man oft, dass viele Klassiker "ihrer Zeit voraus" waren, aber was bedeutet das eigentlich? Grundsätzlich heißt das erstmal, dass nicht alles, was heute als Weltliteratur zählt, bei Zeitgenossen ebenfalls gut ankam. Hier sind zehn Klassiker, die einiges an Kritik einstecken mussten – "eklig" war bisweilen noch eine charmante Beurteilung.
Wir wollen jetzt nicht darauf eingehen, was gute oder schlechte Literatur ausmacht, die Literaturkritik ist ja ohnehin eine schwierige Sache. Gerade bei Werken, die für uns ganz selbstverständlich in den Literaturkanon gehören, ist es trotzdem spannend einen Blick auf die Reaktionen ihrer Zeitgenossen zu werfen.
Die folgende Zusammenstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sicherlich ließen sich noch weit mehr Beispiele finden. Auch Schriftsteller wie Bertolt Brecht oder Heinrich Böll, deren Gesamtwerk allein ihrer politischen Gesinnung wegen immer kontrovers diskutiert wurde, tauchen hier nicht auf. Dafür sind aber vielleicht einige dabei, mit denen vorher niemand gerechnet hat.
Die Leiden des jungen Werther
kostenlos, Johann Wolfgang von Goethe, 108 Seiten (1774)
Der Briefroman um die unerfüllte Liebe des Rechtspraktikanten Werther zur bereits anderweitig verlobten Lotte wurde zwar direkt nach seinem Erscheinen zu einem riesigen Erfolg, doch nicht alle waren begeistert vom neuen Werk des damals jungen Goethe. Die bürgerlichen Leser waren schockiert über den Protagonisten, der den Ehefrieden störte und all ihren moralischen und religiösen Wertvorstellungen widersprach. So schrieb beispielsweise der einflussreiche Theologe Johann Melchior Goeze: „[Ein] Roman, welcher keinen anderen Zweck hat, als das schändliche von dem Selbstmorde eines jungen Witzlings […] abzuwischen, und diese schwarze Tat als eine Handlung des Heroismus vorzuspiegeln […]. Welcher Jüngling kann eine solche verfluchungswürdige Schrift lesen, ohne ein Pestgeschwür davon in seiner Seele zurück zu behalten, welches gewiss zu seiner Zeit aufbrechen wird.“
Die Verwandlung
kostenlos, Franz Kafka, 44 Seiten (1912)
Es ist kaum zu glauben, dass dieser Autor, dessen Werke unbestritten zur Weltliteratur gehören und dessen Schreibstil zur Beschreibung ein eigenes Adjektiv benötigt (kafkaesk), zu Lebzeiten weitgehend unbekannt blieb. So erntete der Prager Kaufmannssohn weder positive noch negative Kritik. Erst nach seinem Tod und durch die posthume Veröffentlichung vieler seiner Werke sowie seiner Tagebücher erlangte er den bis heute anhaltenden Ruhm.
Moby Dick
1,99 Euro, Hermann Melville, 244 Seiten (1851)
Die Geschichte um Kapitän Ahab und seine Verfolgung des weißen Wales ist heutzutage nahezu jedem ein Begriff. Seine Zeitgenossen dagegen brachten Melvilles Roman hauptsächlich Ignoranz und Kritik entgegen. Der Grund dafür war vor allem die Andersartigkeit dieses Romans gegenüber den beliebten, autobiographischen Seefahrergeschichten, die der Autor vorher veröffentlicht hatte. Die neue allegorische Schreibweise und vor allem die immer wieder hervordringende Religionskritik riefen so hauptsächlich Ablehnung hervor. Erst 40 Jahre nach seinem Erscheinen wurde der Roman wiederentdeckt und gewann seitdem immer mehr an Bedeutung.
Der Zauberberg
10,99 Euro, Thomas Mann, 1027 Seiten (1924)
Thomas Mann war ein disziplinierter Arbeiter, der absolut nicht dem Bild eines schwärmerisch-lyrischen Schriftstellers entsprach. Seine Arbeitsweise und sein bürgerliches, geregeltes Leben sorgten dafür, dass man seinen Werken des Öfteren mangelnde Genialität und Phantasielosigkeit vorwarf. Dass diese Kritik vor allem unter seinen Schriftsteller-Kollegen aufkeimte legt jedoch den Schluss nahe, dass Neid hier eine erhebliche Rolle spielt. So konstatierte Marcel Reich-Ranicki: "Dutzende von Schriftstellern erklärten, niemand sei ihnen gleichgültiger als der Autor des Zauberberg. Aber sie beteuerten es mit vor Wut und wohl auch Neid bebender Stimme."
Der große Gatsby
2,99 Euro, F. Scott Fitzgerald, 220 Seiten (1925)
Der große Gatsby, ein schillerndes Porträt der wilden 20er Jahre, zählt heute zu den großen US-amerikanischen Romanen und wurde bereits fünfmal verfilmt, zuletzt 2013 mit Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle. Heute würde man "Gatsby" ohne Zweifel als den wichtigsten der drei von Fitzgerald veröffentlichten Romane bezeichnen. Seine Zeitgenossen waren da anderer Meinung. So schrieb H.L. Mencken 1925 in der Chicago Tribute: "This story is obviously unimportant and, though, as I shall show, it has its place in the Fitzgerald canon, it is certainly not to be put on the same shelf with, say, This Side of Paradise." Ihm missfallen vor allem die schlecht gezeichneten, klischeebehafteten Charaktere sowie die fehlende Tiefe der Geschichte. Dafür gibt Mencken zu, dass die Sprache und der Schreibstil des Autors sich im Vergleich zu den Vorgängerromanen deutlich verbessert habe.
Der Mann ohne Eigenschaften (Erstes Buch)
kostenlos, Robert Musil, 808 Seiten (1930)
Robert Musils unvollendeter Roman ist sicherlich nicht nur wegen seines Umfangs eines der sperrigsten Werke der deutschen Literatur. Obwohl der erste Teil zu seiner Zeit von Kritikern hochgelobt wurde und mit Thomas Mann einen äußerst prominenten Fürsprecher hatte, blieb er vorerst beim breiten Publikum ohne Erfolg. Doch Thomas Mann hatte Recht, als er prophezeite: "Es gibt keinen anderen lebenden deutschen Schriftsteller, dessen Nachruhm mir so gewiß ist."
Der Fänger im Roggen
8,99 Euro (Taschenbuch), J. D. Salinger, 272 Seiten (1951)
Einige Jahre nach seinem Tod ist J. D. Salinger zur Zeit wieder in aller Munde. Das hat er seiner früheren Mitarbeiterin Joanna Rakhoff zu verdanken, deren Roman Lieber Mr. Salinger durch die Feuilletons und Buchblogs geisterte. Salingers einziger veröffentlichter Roman "Der Fänger im Roggen" ist wahrscheinlich eins der meist genannten Lieblingsbücher überhaupt und zählte schon zehn Jahre nach seinem Erscheinen zu den wichtigsten literarischen Klassikern. Doch als der Roman 1951 erschien, erntete er nicht nur Lob. Häufiger Kritikpunkt des Werkes war die teilweise vulgäre Sprache, die viele von Salingers Zeitgenossen für unpassend hielten. Auch der Protagonist Holden Caufield stieß nicht überall auf Zustimmung. So monierte Anne L. Goodman von The New Republic die Ich-Bezogenheit des Protagonisten und bedauert, dass – ausgenommen seine Schwester Phoebe – alle weiteren Charaktere des Romans viel zu blass gezeichnet sind. Auf Veranlassung des Autors ist das Buch bis heute nicht als eBook erhältlich.
Lolita
7,99 Euro (Englische Version), Vladimir Nabokov, 372 Seiten (1955)
Es überrascht nicht, dass Vladimir Nabokov anfangs Probleme hatte, seine Lolita veröffentlichen zu lassen. Schließlich geht es um ein ziemlich skandalträchtiges Thema: die pädophile Beziehung des Ich-Erzählers mit seiner minderjährigen Stieftochter. Der Inhalt sorgte erwartungsgemäß sowohl für Ablehnung als auch Faszination, sodass der eigentliche künstlerische Wert zuerst völlig in den Hintergrund geriet. In den zeitgenössischen Rezensionen dominieren Begriffe wie "abstoßend", "eklig" und auch der Vorwurf der Pornographie wurde nicht selten laut. Erst deutlich später gelingt der Blick über den Inhalt hinaus auf die Vielschichtigkeit und poetische Kraft des Romans. Leider ist die deutsche Übersetzung bisher nicht als eBook erhältlich.
Die Blechtrommel
12,90 Euro (Taschenbuch), Günter Grass, 816 Seiten (1959)
"Seine große stilistische Begabung wird dem Grass zum Verhängnis. Denn er kann die Worte nicht halten. Sie gehen mit ihm durch. Er wird immer wieder geschwätzig. Wäre der Roman um mindestens zweihundert Seiten kürzer, er wäre – wenn auch sicher kein bedeutendes Werk – doch weit besser", das schreibt Marcel Reich-Ranicki noch 1960 in seiner Rezension für die Zeit über Die Blechtrommel. Kaum drei Jahre später nimmt er in einem selbstkritischen Essay einige seiner Beanstandungen zurück. Dennoch zählt der Grass-Roman nur "auszugsweise" in den vom Literaturpapst selbst gewählten Kanon der Deutschen Literatur. Wie Salinger verbietet Günter Grass die Herausgabe seiner Romane als eBook.
Nichts – Was im Leben wichtig ist
9,99 Euro, Janne Teller, 144 Seiten (2000)
Ein aktuelles Beispiel ist dieser Jugendroman der dänischen Autorin Janne Teller. Im Zentrum steht ein Schüler, der mit nihilistische Aussagen seine Mitschüler verunsichern. Die beschließen daraufhin ihm zu beweisen, dass es im Leben durchaus Dinge von Bedeutung gibt – mit fatalen Folgen. Die radikale Ausführung dieser Grundidee bis zu Eskalation sorgte dafür, dass es direkt nach Erscheinen viele Versuche gab den Roman in Dänemark verbieten zu lassen. Ungeachtet des Skandals wurde die Autorin aber mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Und mittlerweile ist "Nichts" nicht nur erlaubt, es wird sogar als Schullektüre genutzt.
Kommentare
Marco 23. Februar 2019 um 18:47
Die Ausgabe von Nabokov`s "Lolita" ist als eBook unter folgendem Link zu finden…
https://www.amazon.de/Lolita-Nabokov-Gesammelte-Werke-8-ebook/dp/B07816C8DP/ref=sr_1_1?s=digital-text&ie=UTF8&qid=1550944002&sr=1-1&keywords=Lolita
Jörg 25. Februar 2019 um 18:41
'Die Blechtrommel' gibt es mittlerweile auch als ebook, siehe z. B. hier:
https://www.ebook.de/de/product/24015937/guenter_grass_die_blechtrommel.html?originalSearchString=die%20blechtrommel
Wenn das Veröffentlichungsdatum bei ebook.de stimmt war es gerade mal 10 Tage nach Grass' Tod erhältlich.